Weihnachten mit Fritz

Weihnachten mit Fritz   (geschrieben ca. 1983)

Es war ´mal wieder Weihnachten. Schon wieder ein Jahr herum. Ein Jahr auf der Straße. Der „kleine Fritz“, wie sich Friedrich normalerweise nannte, lebte dort. Schon seit Ewigkeiten. Er wollte einfach nicht mehr anders.

Friedrich sprach selten mit den Menschen. Die einen wollten ihn nicht, für die anderen war er nur der „Intellektuelle“, er gehörte zu Niemandem, niemand zu ihm. In grauer Vorzeit hatte er wohl eine Frau und zwei Kinder, aber seit sie ihn verlassen hatten, war er mit der Straße verheiratet.

Obwohl er meist das bisschen Freiheit genoss, das er den anderen Menschen voraus hatte, hörte man ihn nun, da es ziemlich kalt und ungemütlich war, öfter fluchen. In seinem dicken braunen Pelzmantel, der fast die Erde berührte, sah er dann aus wie ein großer russischer Bär, denn seine schwarzen Haare, sein schwarzer Bart, seine von Wind und Wetter gebräunte, zerfurchte Haut zeigten eine seltsame Fremdartigkeit, die sofort ins Auge fiel.

Die Straßen waren schon wie leergefegt, die Lichter der Tannenbäume strahlten durch die Fenster. „Jetzt wird bald die Bescherung sein“, dachte Friedrich. Seine Gedanken gingen Jahre zurück, als er noch eine glückliche Familie hatte. Die beiden Kleinen, die mit glänzenden Augen vor dem Weihnachtsbaum standen und vor lauter Ungeduld die Weihnachtslieder in doppelter Geschwindigkeit singen wollten, und wie er sie immer wieder durch den lauten Bass seiner Stimme in den Takt bringen musste, wie sie sich dann hinterher auf die wenigen, aber mit Liebe ausgesuchten Geschenke stürzten, die er nur mühsam von seinem kleinen Verdienst zusammen tragen konnte …

Nur einen Moment lang lächelte er. Was hatte es damit auf sich, dass er jedes Jahr an dem gleichen Tag, zur gleichen Stunde an früher denken musste? – Friedrich war nie besonders religiös gewesen und hatte das Weihnachtsfest immer nur für die Kinder veranstaltet, aber je länger er auf der Straße lebte, umso intensiver spürte er eine gewisse Leere. Jetzt waren alle Familien zusammen, saßen am Tisch, feierten in Ruhe … – in Ruhe? – Wieder dachte er einige Jahre zurück. Ein einziges Chaos: Streit, Gezänk, Gebrüll, Tränen … – Kann man sich wirklich so auseinanderleben, dass man selbst an diesem Abend dem Frieden keine Chance lässt? – Die weihnachtlichen Lieder, die er aus den Wohnungen hörte, sagten etwas anderes, aber vielleicht heuchelten sie auch nur eine Scheinwelt vor? Vielleicht war der Streit ehrlicher … – Er wusste es nicht.

Irgendwann war seine Frau fort, und mit ihr die Kinder. Zuallererst eine Erleichterung. Zum ersten Mal seit langer Zeit keine Vorwürfe mehr – aber was sollte er auch gegen seine Arbeitslosigkeit tun? – Friedrich war in dieser Beziehung ein Realist. Es war vorbei. Aus und vorbei. Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe. Der Abstieg. Irgendwann konnte und wollte er seine Wohnung nicht mehr halten. Zum Glück wurde es damals Frühling und er hatte über ein dreiviertel Jahr Zeit, sich auf den Winter vorzubereiten. Es war hart. Aber er hatte es gelernt, sich auf der Straße zu behaupten.

Nicht ein Auto fuhr durch die Straßen. Leicht angewidert betrachtete Friedrich ein paar seiner „Kollegen“, die es sich mit reichlich Schnaps an einer geschützten Stelle gemütlich machten. Zum Glück war er noch nicht so weit gesunken. Noch nicht. Vielleicht hatte er dafür nicht genug erlebt? – Er kannte die Geschichte von einigen. Manche traurig, manche dramatisch, aber immer ehrlich. Sie brauchten sich voreinander nicht zu verstecken. Dafür waren sie viel zu sehr auf sich angewiesen. Sie gehörten eben zu dem Abschaum der Menschheit. Auch zu Weihnachten. Oder gerade dann …

Ein einsamer struppiger Hund schloss sich ihm an. „Na, auch ein Kollege?“, dachte er bei sich. Ein Brötchen und ein Stückchen Wurst teilten sie sich. „Irgendwo werden auch wir beide mal ein Plätzchen finden“, dachte Friedrich. Die Nacht war noch lang …

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