Oma

Oma     (ca. 1984 geschrieben)

Das Mädchen saß am Straßenrand auf einem großen Stein und weinte bitterlich. ´Sie wollen doch tatsächlich die Oma wegbringen`, dachte es und verstand die Welt nicht mehr. Oma konnte so tolle Geschichten erzählen, aber auch stundenlang zuhören, wenn es ´mal Probleme gab, wie neulich, als das Mädchen Kummer mit ihrem kleinen Freund hatte. ´Für mich einfach eine ideale Oma … `. Und doch – sie vergaß öfter ein paar Sachen, ließ aus Versehen die Herdplatte an oder ging auch schon ´mal in Puschen zum Einkaufen. Maxi – so hieß das Mädchen – fand das dann oft lustig. Aber die Mama! – Oh je, die machte fast immer ein Drama daraus. „Du steckst irgendwann noch das Haus an!“, war der Standardspruch von Mama. Als ob ihr so was nie passieren könnte …

Alles, was schief gehen konnte, das ging aber auch im Moment schief.

Da war die Geschichte mit dem Vogel. – Nun gut, die Käfigtür hätte zu sein müssen. Aber sooo schlimm war es doch nicht, dass Mama gleich ausflippen musste … Der Vogel hat sich so wohl gefühlt! Endlich wusste er, was Freiheit hieß und flog in der ganzen Küche hin und her. Ja – der Kuchen und die offenen Töpfe standen auch da, und manch kleine Feder war im Essen gelandet, aber dass Mama so’n Theater über die kleinen Häufchen gemacht hat! – Oma musste das ganz alleine alles wegmachen! Selbst Maxi durfte nicht helfen. Sie fand das so gemein von Mama. Als ob Oma das extra gemacht hätte. Sie hatte ja sogar Mamas Aufgabe übernommen und den Vogel gefüttert, weil nichts mehr im Schälchen war …

Ja, und Oma hatte so ´ne komische Krankheit, wo sie öfter ins Bett machte nachts, aber dafür kann doch keiner was! – Wie oft hatte sie – Maxi – gebrochen oder ins Bett gemacht als kleines Kind, und immer wurde sie getröstet. Bei Oma? – Nur Geschimpfe und Streiterei. Dabei wurde Oma immer stiller und trauriger. Jetzt war es Maxi, die der Oma zuhörte und auch lustige Geschichten aus der Schule erzählte.

Und dann war es soweit. Maxi wollte eines abends noch einmal ins Wohnzimmer kommen, um etwas zu trinken. Mama unterhielt sich mit Papi. Ach was, unterhalten. Geheult und geschimpft hat sie über Oma und total übertriebene Sachen gesagt. Dass Oma nicht zum Aushalten wäre und dass Mama ihre ewige Vergesslichkeit nicht ertragen könnte und noch fiesere Worte, die Maxi nie sagen durfte. Und Papi? – Seine Antwort war fast noch schlimmer als Mamas ewige Nörgelei. „Dann muss sie eben in ein Pflegeheim“. Papi, ausgerechnet Papi hatte diesen Satz gesagt! – Oma war doch seine Mama! – Maxi verstand das alles nicht mehr und lief zurück in ihr Zimmer. Sie lag noch lange wach …

Der Stein, auf dem Maxi saß, fühlte sich so langsam kalt an. Sie stand schwermütig auf und ging nachdenklich heim. Was könnte sie denn schon tun?

An diesem Abend sagte Oma, sie hätte Kopfschmerzen und wollte früh ins Bett. Maxi wollte ihr hinterher, aber Mama hielt sie fest. „Wir müssen mit dir reden“, sagte sie und drückte Maxi wieder in den Sitz hinein. „Oma zieht aus in eine schöne große Villa“, meinte Mama mit leuchtenden Augen, „dann haben wir wieder viel mehr Zeit füreinander.“ In diesem Moment sah die Mama eigentlich sehr schön aus, so lieb, wie schon lange nicht mehr. Aber Oma! – Nein. Maxi würde Oma nie im Stich lassen. „Ich will mit Oma in diese Villa einziehen“, sagte Maxi. „Nein, das geht nicht. Da wohnen doch nur ältere Leute. Magst Du mich denn kein bisschen? Wir könnten doch auch zusammen spielen und singen und lesen.“ – ´Wäre ja toll, das hat Mama schon ewig nicht mehr gemacht`, dachte Maxi. „Hast Du die Oma lieb?“, fragte sie. „Aber natürlich, Maxi.“ „Warum lässt Du sie dann in diese Villa gehen?“

Ihr wird es dort viel besser gehen als bei uns. Da wird sie den ganzen Tag gepflegt, braucht nicht zu kochen oder sauber zu machen und hat den ganzen Tag Freizeit.“ „Dann werde ich das später wohl auch tun?“ „Was, Maxi?“ „Dich in ein Pflegeheim stecken, damit es Dir dort sooo gut geht …“ Dann rannte Maxi – so schnell wie sie konnte – hinaus. Weg, nur weg wollte sie. Schon wieder musste sie weinen. Sie rannte durch den Garten, sprang über die Hecke und lief die Straße entlang bis zum Wald, in dem sie schon als kleines Kind so gerne gespielt hatte. Jetzt allerdings kam Maxi auch ihr Freund Wald kalt und bedrohlich vor. Sie ging immer weiter und weiter und weinte sich ihre ganzen Probleme vom Herzen.

Es war schon lange dunkel, als sich Maxis Mama und Papa entschlossen, die Polizei anzurufen.
Oma, die die Aufregung im Haus natürlich bemerkte, zog ihre Puschen an und ging leise die Treppe hinunter. Sie wusste, was die Schwiegertochter wollte und sie wusste es schon lange. Nicht mit absoluter Sicherheit. Bis heute. Natürlich wollte sie der Familie nicht zur Last fallen, aber sie hätte trotz allem nicht gedacht, dass es so schnell kommen würde. Pflegeheim. ´Nur alte Leute, die nicht mehr richtig kauen können, keine Verwandte mehr kennen und nur allen zur Last fallen!`, dachte sie. ´Bin ich schon so alt?`- Oma schlich sich durch die Hintertür hinaus und ging über den Rasen. Es war Frühling. Die schönste Zeit für sie. Es duftete nach Leben. Alles erwachte. Nur in diesem Haus starb die ganze Fröhlichkeit, die einst hier herrschte. ´Vielleicht ist es ja besser so`, dachte Oma. ´Wir brauchen einen neuen Anfang.` Sie hatte einen Lieblingsplatz, an dem sie – wenn es irgendwie möglich war – stundenlang saß und träumte. Keiner wusste davon. Nicht einmal Maxi. Dort würde sie in Ruhe über alles nachdenken und zu einer Lösung kommen. Das wusste sie. Es war immer so.

Es war schon nach Mitternacht, als die Eltern von Maxi ein zweites Mal die Polizei anriefen. Jetzt als Suchmeldung nach einer „hilflosen Person“. Wenn das die Oma wüsste! – Ja, sie war alt, sie war vergesslich, sie ging auch diesmal im Morgenmantel spazieren – aber hilflos? – Das hätte sie nicht hören wollen.

Der Polizist war eigentlich sehr nett, doch er hatte keine Chance. Mama war so aufgeregt, dass er entnervt sagte „Wir finden die beiden schon“ und ging. Es hatte keinen Zweck. Er ging zu seinem Wagen und gab über Funk die Personenbeschreibung durch, als er im Spiegel zwei Gestalten sah. Maxi und Oma hatten sich gefunden. „Ja, wo waren Sie denn?“, fragte der Polizeibeamte, „alles ist in heller Aufregung bei Ihnen zu Hause!“ – Maxi fand das toll. „Stellen Sie sich ´mal vor, Herr Wachtmeister, Oma und ich, wir haben sogar den gleichen Geheimplatz im Wald, ist das nicht irrsinnig!? – Und ich dachte, das wäre nur mein Versteck …“ Und Oma fragte traurig, „Wann ist denn ´mal keine Aufregung im Haus? – Es gibt doch keine ruhige Minute mehr. Ich glaube, ich werde tatsächlich ausziehen.“

In diesem Moment kam Maxis Papa aus dem Haus gerannt und umarmte erst Maxi, dann die Oma und dann – aus Versehen – den Polizisten. „Und jetzt ist Schluss mit der ganzen Hektik. Die Mama ist schon den ganzen Abend am heulen. Jetzt will sie auf einmal nicht mehr, dass Oma weg geht – weiß der Teufel warum – könnt Ihr Euch denn nicht ´mal einigen?“ Die letzten Worte dieses Satzes gingen allerdings im Indianergeheul von Maxi unter, die mit Riesensätzen auf ihre Mama zu lief, die mittlerweile im Türrahmen stand und mit ausgebreiteten Armen ihre kleine Tochter empfing.

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